Geschichtenweben | Eine experimentelle Reise in die Vergangenheit einer Stadt, die noch keine war

Die 1920er Jahre waren auch in Wuppertal eine Zeit des tiefgreifenden Wandels, des Aufbruchs und der schillernden Widersprüche. Geprägt von den Folgen des Ersten Weltkriegs, der politischen Instabilität der heranwachsenden Weimarer Republik und sozialen Umwälzungen spiegelte dieses Jahrzehnt das Auf und Ab einer Gesellschaft wider, die gleichzeitig in kultureller Blüte stand und mit wirtschaftlichen Herausforderungen kämpfte. Diesen widersprüchlichen Zeiten widmen sich Jono und Reza in ihrem Projekt „Geschichtenweben“ in den Wiesenwerken.

Jono Renze studierte Politikwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft im Wuppertal Institut. Reza Shirinzadeh absolvierte einen Bachelor in Theaterwissenschaften. Die beiden haben sich im Rahmen ihres anhaltenden Masterstudiums des „Public Interest Design“ an der Bergischen Universität Wuppertal kennengelernt und konzipierten und realisierten gemeinsam das Projekt „Geschichtenweben“

Zwei Beamer benetzen, die grob verputzen Wände der ehemaligen Fabriketage in den heutigen Wiesenwerken mit Videoaufnahmen von ratternden Webstühlen. Der rhythmische Takt der Maschinen verteilt einen ohrenbetäubenden Lärm und lässt die Vergangenheit des Gebäudes greifbar werden. Im Raum stehen zwei große Tische, um die sich die Besucher*innen sammeln und sich von den Aufnahmen in den Bann ziehen lassen. Die Reise zurück in das letzte Jahrhundert beginnt. Auf der Leinwand des historischen Putzes erscheinen Aufnahmen aus dem Wuppertal der 20er Jahre. Menschen tummeln sich in den Elberfelder und Barmer Innenstädten, laufen an prunkvollen Gründerzeitbauten vorbei und fahren mit der Schwebebahn über eine Stadt, die durch das Wesen der Zeit gezeichnet ist. Dann ertönt Jonos Stimme. Er sitzt zwischen den schwarz-weißen Bildausschnitten an einem Tisch und liest laut aus einem Buch über die 20er Jahre in Wuppertal vor. Ihm gegenüber sitzt Reza hinter zwei Laptops, die Jonos Worte Bild werden lassen. Sie erzählen auf ihre eigene Weise von den schillernden Widersprüchen, die sich in der Stadt, die noch keine war, abzeichneten.

Die 20er Jahre waren aber nicht bloß das Jahrzehnt, in dem Wuppertal gegründet wurde. Sie waren auch das Jahrzehnt der wilden Experimente einer jungen Generation, die nach dem Ersten Weltkrieg ihr Leben wieder aufnahm und sich gegen die Gewalt des Gestrigen auflehnte. Die Textilindustrie der Talstadt blühte auf und zog immer mehr Menschen auf der Suche nach einer lebenswürdigen Existenz in die Backsteinfabriken. Horrender Reichtum existiert hier neben bitterer Armut. Zeitgleich gedieh die Unterhaltungsindustrie und auf den Straßen machte sich die Begierde nach Kultur und Freiheit breit. Dabei werden die 20er Jahre auch von politischen Widersprüchen heimgesucht. Die Weimarer Republik kämpfte darum, sich zu etablieren, während politische Gruppierungen um die Gunst des politischen Subjekts des Proletariats rankten. So riefen etwa Anfang der 20er Jahren Vertreter der kommunistischen Partei, sowie der beiden sozialdemokratischen Parteien im Elberfelder Rathaus einen Streik gegen den konterrevolutionären Kapp-Lüttwitz-Putsch aus. All das in einem Jahrzehnt, das von den wirtschaftlichen Auf und Abs der Nachkriegsjahre gekennzeichnet waren, die sie schlussendlich lediglich als weitere Vorkriegsjahre inmitten unbändigen Reichtums und wachsender Armut entpuppten. 

Jono und Reza unterbrechen ihre Performance und die Lichter gehen an – es ist Zeit, dass die Besucher*innen ihre eigenen Geschichten weben. An jedem der beiden Tische bekommen die Besucher*innen die Vita einer Person geschildert, die in den 20er Jahren an unterschiedlichen Abschnitten ihres Lebens stehen. Nach einer kleinen Einführung in das fiktive Leben der Person ist es Aufgabe, die Geschichte weiterzuspinnen. Wie sahen diese Menschen aus? Welche Persönlichkeiten hatten sie? Wie behandelten sie ihre Mitmenschen? Wie trafen sie die Umstände dieser Zeit und welche Rolle spielten sie darin? An den zwei Tischen, die sich im Raum gegenüberstehen, werden dabei zwei gegensätzliche Charaktere entworfen. Friedrich, ein Fabrikbesitzer, der die Firma nach dem plötzlichen Tod seines Vaters erbt und eine Karla, eine Proletarierin, die sich in den Fabriken ihren Lebensunterhalt verdienen muss, nur um schlussendlich doch in Armut existieren zu müssen. Sie beide sind Prototypen zweier Subjekte, die von den historischen Umständen der 20er Jahre gezeichnet wurden. Ihre fiktionalen Geschichten werden mit den realen Geschehnissen der Zeit verknotet.

Geschichtenweben ist eine experimentelle Mischung aus Performance, kreativer Gruppenarbeit und Reflexion. Ein flüssiges Durcheinander, in dem die Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten mit intimen Einblicken in das, was hätte sein können, verbunden werden. Auch die Wiesenwerke sind stiller Teil dieser Performance, der im dritten Teil der Veranstaltung thematisch fokussiert wird. Besucher*innen bekommen die Möglichkeiten in das Leben von Coppel Cosmann, dem Gründer der Gold-Zack-Werke zu tauchen, und die Entwicklung der einstigen Marke nachzuverfolgen. Das gläserne Dach, unter dem einst Gummibänder, Kordeln und Hosenträger, produziert wurden, ist heute ein Ort, an dem viele Menschen sich auf unterschiedliche Weise begegnen. Die Geschichte steckt in den Mauern.

Nach einer abschließenden Vorstellungsrunde, in der die zwei Gruppen ihre gewobenen Geschichten vorstellen, klingt die Veranstaltung in Gesprächen aus. Damit endet nicht nur irgendeine Performance, sondern vor allem eine inspirierende Reise voller Eindrücke und Denkanregungen. Geschichtenschreiben ist ein andauernder Prozess, der sich quer zu herkömmlichen Praktiken verhält. Einen Hosenträger stellt mensch her, in der er*sie sich der Herstellung mit seinen Händen widmet. Eine Geschichte hingegen ist ein Produkt zahlreicher Einflüsse, die durch das Schreiben zwar materialisiert wird – ihr Ursprung liegt jedoch außerhalb des Schreibens. Gerade deswegen ist es möglich, dass wir an diesem Abend die Geschichte zweier Menschen weben konnten, die in dieser Form womöglich niemals existierten. Und doch sind die Auswirkungen des Geschichtenwebens in Form von kreativem Ausleben, Bildung von historischem Bewusstsein und Wissen real. 

Falls ihr mehr über das Projekt „Geschichtenweben“ erfahren wollt, schaut doch mal hier [INSTAGRAM] vorbei und informiert euch hier [INSTAGRAM/HOMEPAGE] über die Wiesenwerke.

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