Solidarische Mirke | Von Nachbar*innenschaft und Solidarität
Dieser Winter ist kein üblicher. Die steigende Inflationsrate und enorme Preisanstiege im Energiesektor führen zu einer umfänglichen Prekarisierung und Armutsbedrohung von Bürger*innen – so auch im Mirker Quartier. Die Fragen, die daraus ohne weiteres resultieren, sind: Wie antworten wir darauf? Wie antworten wir als Nachbar*innen auf das Leid unserer Nachbar*innen? Wie können wir unterstützen? Der vorliegende Artikel kann diese Fragen lediglich ankratzen. Für intervenierende Praxen bedarf es Zusammenschlüsse, Orte der Vernetzung und Menschen, die aktiv werden. Wie etwa im Rahmen der „Solidarischen Mirke“ – einer losen Gruppe von Nachbar*innen und Akteur*innen aus dem Quartier, die sich organisieren wollen, um verschiedenen Problematiken im Quartier unter der Prämisse der Solidarität anzugehen. Dieser Artikel wird aber eher ein gedankliches Feld aufspannen, das sich dem Potenzial der Solidarität im nachbarschaftlichen Zusammenleben widmet.
In Zeiten der gegenwärtigen Krisen ist Solidarität in aller Munde. Sie wird von einigen als der Schlüssel zur Bewältigung der Krisen verhandelt, der sich der Forderung, niemanden zurückzulassen, verschreibt. Doch trotz der essenziellen Stellung in der Krisenbewältigung, kursieren nur wenige praktische Ansätze, die sie auch anwendbar werden lassen. Resultat dieses Ausbleibens ist, wie so oft unter herrschenden Bedingungen, der Rückzug ins Private – solange ich eine warme Wohnung und einen gefüllten Kühlschrank habe, geht es mir doch gut. Diese Gedanken sind zwar nicht gerade solidarisch, werden jedoch unter den gegenwärtigen Bedingungen gefördert. Dieses Denken des „Sich Selbst der*die Nächste Sein“ ignoriert dabei jedoch die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenseins.
Die Politikwissenschaftler*in Isabell Lorey hält dahingehend fest, dass menschliche Wesen grundsätzlich prekär sind, weil sie verkörpert sind. Körper müssen essen, sie müssen sich vor Witterung und Gefahren schützen, sie müssen trinken und ihre Lebensräume heizen können. Da wir alle dieses Prekärsein in unseren Körpern herumtragen, und uns unter gegenwärtigen Zuständen nur selten durch unsere eigene Arbeit versorgen können/müssen, sind wir voneinander abhängig.
Und trotzdem sind wir nicht alle gleich prekär. Denn neben den Bedürfnissen unserer Körper gibt es auch gesellschaftliche Bedingungen, die gute Lebensumstände für einige Gruppen wesentlich schwerer erreichbar gestalten, als für andere. Aus dieser Ungerechtigkeit und dem Glauben daran, dass es anders seins sollte, erwächst Solidarität. Was passiert also wenn wir uns als gesamte Gesellschaft gegen diese Mechanismen aussprechen? Wenn wir aktive Praktiken entwickeln, die Ungleichheiten ausgleichen? Was passiert, wenn wir Solidarität als grundlegenden Modus unserer Beziehung zueinander verstehen und somit unweigerlich auch als Bindeglied in Nachbar*innenschaft? Was kann das bedeuten?
Die Antwort darauf: Alles! Grundvoraussetzung dafür ist es jedoch, dass wir Orte der Vernetzung, des Austauschs und der Begegnung erschaffen, in denen wir unsere Beziehungen zueinander auch solidarisch ausgestalten können – in denen Solidarität wachsen kann. Im Quartier gibt es bereits eine Vielzahl von Einrichtungen und Orten, die sich solidarischen Akten verschreiben und mit ihren begrenzten Mitteln versuchen, marginalisierten Menschen das (Über-)Leben zu ermöglichen. Wenn wir aber zukünftig in einer Nachbar*innenschaft und auch in einer Gesellschaft leben wollen, die nicht bloß durch zivilgesellschaftliche Kriseninterventionen bestehen kann, braucht es weitere kreative und alternative Schritte, die Einzug in unsere Alltage finden. Zum Beispiel in Form von Solidaritätsfonds, die bereits in den Hochzeiten der anhaltenden Pandemie für Kulturschaffende eingerichtet wurden, und Menschen vor z. B. drohenden Räumungen oder unterkühlten Wohnräumen schützen könnten. Oder offene Hilfeeinrichtungen, in denen Wissen und materielle Notwendigkeiten ausgetauscht werden und zeitgleich Raum für Begegnung in bedingungsloser Atmosphäre erzeugt wird. Andere Ansätze könnten bereits auf der Mikroebene anpacken, wie etwa hausinterne Verteilerstationen, in denen Lebensmittel geteilt und Bedürfnisse ausgetauscht werden können. So kann das geteilte Auto/Lastenrad und der Einkauf beim nächstgelegenen Supermarkt zu einem solidarischen Akt werden, der nicht nur uns selbst zentriert, sondern unsere Verbindung zueinander.
Solidarisch sein bedeutet, niemanden mehr zurückzulassen. Es bedeutet, dass das Leben der Nächsten genauso wertvoll ist wie das eigene, weil wir füreinander sind und nur dadurch existieren können. Der Reichtum der Einen ist die Armut der Anderen. Aber der Reichtum aller ist die Ermangelung der Armut. Klar ist dabei, dass Solidarität ein aufkeimendes Phänomen ist, denn sie funktioniert einfach nicht, wenn sie lediglich übergestülpt wird. Gerade deswegen ist es so wichtig, den praktischen Diskurs und die daraus resultierenden Möglichkeiten gemeinsam mit marginalisierten Betroffenen zu führen und zuzuhören. Dass wir uns organisieren und so einen Raum öffnen, in dem unsere kollektive Stimme lauter und weiter schallen kann. Gemeinsam schaffen wir es so durch diesen Winter im Quartier. Die „Solidarische Mirke“ könnte dafür ein wichtiges Werkzeug sein, das tatkräftiger Unterstützung und vieler unterschiedlicher Hände bedarf, um angewendet zu werden!
Ein weiterer Beitrag zur nachbarschaftlichen Organisierung gegen die enorme Steigerung der Nebenkosten findest du hier [LINK analyse & kritik].