Hebebühne goes Offline 21/22 #1 | Reiko Yamaguchi mit »Fassade«
Die Hebebühne gilt seit 2009 als feste Ausstellungsinstitution im Quartier Mirke. In den Wintermonaten sind die Innenräume des Kunstvereins, beherbergt in einer ungeheizten, früheren Tankstelle, jedoch für den normalen Ausstellungsbetrieb kaum nutzbar. Die Außenflächen des Gebäudes sowie die von Außen einsehbaren Räume mit teilweise großen Fensterflächen bieten aber großzügige Installations- und Projektionsflächen, welche auch in der kalten Jahreszeit ausgezeichnet genutzt werden sollen, um künstlerischen Vorhaben Raum zu geben. Die Hebebühne geht deshalb Offline. Vier ausgewählte Kunstschaffende bekommen in diesem Rahmen die Möglichkeit, die Hebebühne für je einen Monat als künstlerisches Objekt zu interpretieren und inszenieren. Die japanische Künstlerin Reiko Yamaguchi beginnt im späten Oktober mit ihrem Werk Fassade.
Reiko Yamaguchi ist 1982 im Okayama (Japan) geboren. Hier wuchs sie auf und studierte „Musical Creativity and the Environment“ an der Tokyo University of the Arts, bevor sie 2013 nach Braunschweig kam, um an der Hochschule für bildende Künste ihr Diplom zu absolvieren. Seit 2019 ist sie Meisterschülerin von Prof_in. Corinna Schnitt und als freie Künstlerin in Deutschland tätig. Thematisch arbeitet Yamaguchi mit der Linie. In ihrem Tun wagt sie den Versuch, die Linie in räumliche Gegebenheiten einzubinden und ihre Verbindung zu Zeit und Raum herauszustellen. Praktisch arbeitet sie in diesem Sinne sowohl mit der materialisierten Linie in Fadenform, die sie in Räumen modifizierbar installiert. Zum anderen macht sich Yamaguchi aber ebenso die Videoinstallationen zunutze, mithilfe derer sie die symbolische Linie als optische Verbindung von Zeit und Raum visualisiert. Die Linie wirkt in diesem Sinne als geradlinige Verbindung von jeglichen linearen Abläufen. In perplexen Installationen erweitert sie die Linie durch eine dritte Dimension und schafft damit die Möglichkeit, ihre geradlinigen Charakteristika zu verzerren. Praktisch wird es somit möglich, kurzzeitig in den Werken zu verschwinden und Zeit sowie Raum unabhängig voneinander zu manipulieren.
Kein Wunder, dass sich auch das neuste Werk Fassade, welches im Rahmen der ersten Offline-Installation ausgestellt wird, der Linie als manipulierbare Verbindung widmet. In der Vergangenheit näherte Yamaguchi sich in ihrem künstlerischen Schaffen der Darstellung auf vielfältigem Wege: sowohl durch Performances, Zeichnungen und Videoinstallationen. Doch keine dieser Darstellungsmethoden verschränkte die Zeitlichkeit der Linie so sehr mit ihrer Räumlichkeit wie der Spiegel. Im Rahmen von Offline wählte Yamaguchi ihn deshalb als Vermittlungsinstanz. Auf dialektische Weise stellt Fassade damit das Ergebnis eines intensiven Arbeitsprozesses dar, der sich letztendlich auf die Einfachheit des Ursprungs reduziert – ganz ohne technische Vermittlung. Als Medium obliegt es dem Spiegel, wie auch der Linie, eine gewisse Unmittelbarkeit in sich zu tragen, die sich auf die Betrachtenden auswirkt und die spielerische Verbindung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit erlebbar macht. Physisch materialisiert sich diese Verbindung durch die Anordnung der Spiegel, die in ihrer Gänze die Installation ausmachen. Sie besteht aus einzelnen mit Spiegelfolie bezogenen Holzpaneelen, die in unterschiedlichen Abständen, Tiefen und Winkeln zueinander positioniert wurden. Dadurch ergibt sie die Tatsache, dass gespiegelte Abbildung verzerrt, in der Tiefe der Spiegel verschwinden und abstrakt wiedergegeben werden. Die Installation lädt zum irritierten Stehenbleiben und Experimentieren ein – und genau das ist Yamaguchis Ziel.
Die Idee für die Installation ist nämlich unmittelbar mit den Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf das öffentliche Leben verbunden. Vielleicht offenbarte sich nie augenscheinlicher, dass die Verbindung von Zeit und Raum solch essenzielle Faktoren des gesellschaftlichen Daseins sind. Die Einschränkung und Neuerfindung von Räumen mit einhergehender Entschleunigung des Lebens implizierten jedoch nicht bloß Schlechtes. Trotzdem nimmt das gesellschaftliche, vielleicht baldig postpandemische Leben geradezu Kurs auf das Altbekannte, welches durch das krampfhafte Raffen der Zeit charakterisiert ist. Yamaguchi möchte mit ihrer Arbeit öffentliche Irritation schaffen. Irritation die Vorbeigehende und Betrachtende dazu anhält, inne zu halten und sich auf spielerische Art und Weise mit der künstlerischen Installation auseinanderzusetzen. Sich Zeit zum Spielen zu nehmen, so hofft sie, könnte zu einem bewussten und entschleunigten Umgang mit der Zeit selbst führen.
Der Auswahl des Titels Fassade war für Yamaguchi ein Einfaches. Das Wort geisterte bereits seit Langem in ihrem Kopf herum. Er impliziert jedoch keine simple Plattitüde, sondern hat tieferen Sinn. Denn die Werke Yamaguchis funktionieren nur durch projizierende und reflektierende Elemente. Reißt mensch die Spiegelfolie von den Holzpaneelen oder schaltet den projizierenden Beamer aus, so verbleibt lediglich eine dreidimensionale Fläche, die von ihrem ursprünglichen Nutzen losgelöst scheint. In gewisser Weise stellt sich damit die Ironie des Weges heraus. Am Ende ist eben alles wohl doch nur Fassade.
Reiko Yamaguchis Werk stellt damit den Startschuss für Offline im Jahre 21/22 dar. In den kommenden Monaten folgen Werke von Beate Gördes und Dagmar Lutz (November/Dezember), Lisa Mrozinkski und Paul Janns (Dezember/Januar) und Maria Seitz (Januar/Februar). Offline wird durch Neustart Kultur und den bergischen Kulturfond gefördert. Weitere Infos zur Hebebühne gibt es hier [Homepage | Facebook | Instagram].