Haut(ge)schichten | Eine Arbeit für die Ewigkeit
Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Sie umgibt uns, schützt uns und lässt uns unsere Alltage bestreiten. Zeitgleich ist sie bereits seit Jahrtausenden in diversen Kulturen eine fleischliche Leinwand für allerlei Schmuck. So auch im Mirker Quartier. In einem Ladenlokal auf der Hochstraße 75 werden Tag für Tag Arbeiten für die Ewigkeit realisiert – zumindest für das Empfinden menschlicher Wesen. Zwischen einer Vielzahl von Kunstobjekten wird hier einvernehmlich Kunst in Körper gestochen. Wir haben uns mit zwei der drei Ladeninhaber*innen Vanessa und Sofia auf einen Hafer-Cappuccino getroffen, um mehr über ihre Arbeit, den Laden und die Menschen dahinter zu erfahren.
Vanessa wollte schon immer als Piercerin arbeiten und gelangte 2004 durch Freund*innenschaften an eine Ausbildungsstelle zur Piercerin. Gemeinsam mit Sofia und Kathi, die an diesem Tag leider nicht vor Ort sein konnte, ist sie Inhaber*in von Haut(ge)schichten. Sofia ist auf dem Ölberg groß geworden. Als gelernte Schneiderin entwickelte sie schon früh ein Gefühl für das Schmücken von Körpern und kümmert sich im Studio heute um den Schmuckhandel und die anstehenden organisatorischen und verwaltungstechnischen Aufgaben.
Kann die Arbeit mit der Ewigkeit zur Routine werden? Vermutlich nicht. Aber sie kann professionalisiert werden, um die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen. Auf der Hochstraße 75 befindet sich ein Ort, an dem alltäglich auf eine professionelle Art und Weise mit der Ewigkeit hantiert wird. Ein Ort, an dem Menschen die Hoheit über ihre eigenen Körper für kurze Zeit in die Hände anderer Menschen legen, um sie schmücken und verzieren zu lassen und um die eigenen Geschichten verewigen zu lassen – Haut(ge)schichten. Das eingeklammerte „ge“ offenbart die Doppeldeutigkeit dieser Wortneuschöpfung. Hier werden (Ge)schichten zwischen und durch Haut-schichten graviert und gestochen.
Sofia und Vanessa lernten sich im in der Schule kennen. Aus einer Klassenkamerad*innenschaft wurde eine intensive Freund*innenschaft, die sie durch Ausbildung und acht Jahre andauernde Arbeit in einem Wuppertaler Tattoo- und Piercing-Studio vertiefen. 2011 vergrößerte sich der Wunsch, ein eigenes Projekt zu starten und als die Umstände es erlaubten und Nachwuchs im ehemaligen Studio gefunden wurde, packten Vanessa, Sofia und Kathi die Möglichkeit beim Kragen. In dem Haus, in dem Sofia auf der Hochstraße aufwuchs, stand im Erdgeschoss ein renovierungsbedürftiges Ladenlokal leer. Sofia nahm den Kontakt auf und zusammen mit Freund*innen und Bekannten renovierten sie das Studio. Nach einigen Monaten ging der Wunsch dann endlich in Erfüllung: Haut(ge)schichten wurde Realität.
Hau(ge)schichten ist allerdings kein gewöhnliches Studio. Vanessa, Sofia und Kathi wollten mit dem Design des Studios zeigen, dass Tattoo- und Piercing-Studios keineswegs immer einem düsteren Klischee entsprechen müssen. Stattdessen setzen sie auf eine offene, helle und transparente Gestaltung, die z. B. auch die konservativen Nachbar*innen von nebenan und Menschen abseits der Szene anspricht. Im hellen Eingangsbereich befindet sich neben einem einladenden Wartebereich unzählige ausgewählte Schmuckstücke in Glasvitrinen und Pflanzen. Die Wände sind voller Kunst, die darauf wartet, in der Haut ihrer neuen Besitzer*innen verewigt zu werden. Aber auch die Mitarbeitenden und die selbstständigen Tätowierer*innen sollen sich hier wohlfühlen – schließlich verbringen große Teile des Teams mehr Zeit im Studio, als in den eigenen vier Wänden.
Vanessa und Sofia sind nach über 12 Jahren noch immer froh, Teil des Quartiers zu sein. Inzwischen sind Tattoos und Piercings in der Gesellschaft weitaus akzeptierter und das lässt sich auch an der diversen Kund*innenschaft des Studios bemerken. Neben Angehörigen verschiedener Subkulturen, in denen Piercings und Tattoos schon immer ein Zeichen der Zugehörigkeit waren, und der Stammkund*innenschaft, besuchen inzwischen Menschen aus dem gesamten Querschnitt der Gesellschaft die Räumlichkeiten, um sich schmücken zu lassen. So auch die bisher älteste Kundin – eine 85-jährige Dame, die einst Schuldirektorin eines Wuppertaler Gymnasiums war. Trotz ihres eher konservativen Erscheinungsbildes wollte sie sich ein Tattoo stechen lassen. Sofia erfuhr, dass der Dame bei einem vergangenen Familienfrühstück auf mehrfache Nachfrage offenbart wurde, dass ihre Enkelin sich den Namen ihre Großmutter tätowiert hatte. Im Gegenzug ließ sie sich im Beisein ihrer Enkelin ihren Namen unter die Haut stechen. Gerade solche besonderen Momente bleiben im Gedächtnis.
Es versteht sich von selbst, dass die Arbeit an und mit den Körpern anderer Menschen ein hohes Maß an Vertrauen, Zeit und Professionalität verlangt. Vanessa und Sofia ist es deswegen besonders wichtig, umfassend auf die individuellen Bedürfnisse und eventuelle Ängste von Kund*innen einzugehen und auch noch nach dem Tattoo-/Piercing-Termin mit ihrer Expertise zur Seite zu stehen. Dazu gehört von Zeit zu Zeit auch, dass sie einzelnen Kund*innen von ihren Vorhaben abraten, weil sie anatomisch nicht umsetzbar sind, oder der anstehende Sommerurlaub das Tattoo/Piercing zu sehr strapazieren könnte – auch wenn das letztendlich ausbleibende Gelder bedeutet.
Haut(ge)schichten ist einer der vielen Orte im Quartier, der einem verschlossen bleibt, wenn man nicht die Absicht hat, ihn zu besuchen. Umso wichtiger finden wir es, Orte wie diesen zu besuchen und euch damit die Vielfältigkeit des Quartiers zu offenbaren. Falls ihr selbst mal bei Haut(ge)schichten vorbeischauen und Kunstwerke in eurer Haut verewigen lassen wollt, schaut doch gerne hier [HOMEPAGE] und hier [INSTAGRAM] vorbei. Sofia, Vanessa und der Rest des Teams freuen sich auf euren Besuch!