Grüne Wege in der Mirke | Grünflächen im Quartier neu entdecken
In urbanen Räumen sind Grünflächen seltene Erholungsorte, die ein Bedürfnis erfüllen, das viele von uns verbindet: die Sehnsucht, Zeit im Grünen zu verbringen. Besonders in dicht besiedelten Quartieren wie der Mirke, die durch ihre historisch gewachsene Struktur wenig Raum für Natur lässt, wächst der Wunsch nach zugänglichen und vielfältig nutzbaren Freiflächen. Doch wie können wir diesem Bedürfnis begegnen, wenn neue Grünflächen kaum geschaffen werden können? Genau dieser Frage widmen sich Eva Parusel und Inge Grau mit einem ungewöhnlichen Projekt: Auf ihren geführten Quartiersspaziergängen entlang der „Grünen Wege in der Mirke“ laden sie die Nachbarschaft ein, vorhandene Grünflächen neu zu entdecken. So schaffen sie zugleich einen Raum für gemeinsames Nachdenken und Ideen zur Zukunft des Viertels. Wir haben uns mit Inge und Eva getroffen, um mehr über ihr Projekt zu erfahren.
Eva Parusel ist promovierte Biologin, lebt im Quartier und ist darüber hinaus in diversen Kontexten ehrenamtlich aktiv. Sie arbeitet derzeit hauptberuflich als stellvertretende Geschäftsführung und Praktikumskoordination an der Bergischen Universität Wuppertal. Inge Grau lebt im Quartier und ist als zivilgesellschaftliche Quartiersentwicklerin Mitglied des Orgateams des Forum:Mirke.
Das Mirker Quartier ist ein diverser Raum, der von unterschiedlichsten Menschen mit differenten Bedürfnissen genutzt wird. Doch wir alle verspüren zumindest von Zeit zu Zeit das Verlangen, im Grünen zu verweilen. Die Beschaffenheit des Quartiers, mit seinen engen von Altbauten übersäten Straßenzügen hat diesem Bedürfnis nicht viel entgegenzusetzen. Nur vereinzelte und weitflächig über das Quartier verteilte öffentliche Grünflächen säumen das Quartier – wobei manche vielen Quartiersbewohner*innen überhaupt nicht bekannt sind. Darüber hinaus sind einige Grünflächen, wie etwa die Spielplätze, aufgrund ihrer Konstellation auf die Bedürfnisse bestimmter Gruppen zugeschnitten, sodass die Nutzung durch andere Gruppen mit anderen Bedürfnissen teilweise Problematiken entstehen lässt. Inge und Eva stellen sich im Hinblick auf diesen Zustand die Frage, wie wir zukünftig mit den Grünflächen in unserem Quartier umgehen wollen und sind der Überzeugung, dass diese Fragen Aufmerksamkeit bedürfen. Um diese zu wecken, bedienen sie sich eines eher ungewöhnlichen Veranstaltungsformats: kollektive Quartiersspaziergänge entlang der „Grüne(n) Wege in der Mirke“.
Inges und Evas Interesse für die Grünflächen im Quartier wurde über unterschiedliche Zugänge geweckt: Eva erkannte durch Gespräche die Wertschätzung der Quartiersbewohner*innen für das vorhandene Grün, während Inge durch die Kartografie des Quartiers auf die verstreuten Grünflächen aufmerksam wurde. Der Austausch im Forum:Mirke führte schlussendlich dazu, dass sie sich gemeinsam ein Bild von der Situation machen wollen. Ein Spaziergang ist dabei vorerst eine einleuchtende Herangehensweise, und durch den Kontakt zu Anna Kühn, die ihre Thesis zu Stadtspaziergängen schrieb und derzeit einen Bundesfreiwilligendienst in Utopiastadt leistet, wurden Eva und Inge weiter an die Methodik des Stadtspaziergangs herangeführt. Eine erste Probeexpedition folgte im Juni 2024 und seit September findet das Format vorerst bis Dezember an jedem ersten Montag im Monat statt.
Spazierengehen unterscheidet sich grundlegend vom zielgerichteten Gehen, welches wir im Alltag nutzen, um Distanzen zu überwinden: Es verfolgt keinen Zweck außer sich selbst, kein Ankommen außer dem Erleben des Gehens. Im Gegensatz zum zügigen Gang von A nach B eröffnet das Spazieren daher die Möglichkeit, einen Raum für Achtsamkeit und Entdeckung zu öffnen und somit unsere Umgebung anders wahrzunehmen. Während wir uns langsam fortbewegen, entwickeln wir ein Gefühl der Verbundenheit zu Orten, die oft nur Kulisse unseres Alltags sind. Straßen, Fassaden, Bäume und kleine Details werden Teil unserer inneren Landkarte – das Gewohnte wird zum Unvertrauten und unscheinbare Details treten hervor.
Dieser Praxis des absichtslosen Gehens erweitert unsere Perspektiven. In diesem Sinne kann, und das machen sich Eva und Inge innerhalb ihres Projekts zu eigen, Spazierengehen als eine niederschwellige Methode der Aneignung verstanden werden – eine Möglichkeit, unsere Lebensräume bewusst und aktiv zu erfahren und zu gestalten. Indem wir gemeinsam ziellos und offen durch unser Quartier spazieren, nehmen wir es neu in Besitz. Dieser Akt der Aneignung geschieht vorerst nicht im materiellen Sinne, sondern vielmehr durch Wahrnehmung und Präsenz. Er materialisiert sich schlussendlich allerdings in den Handlungen, die darauf folgen. Denn Inge und Eva begreifen die Grünflächen des Quartiers als Kommunikationsflächen, die der gesellschaftlichen Aushandlung bedürfen, um die Zwecke der Bewohner*innen zu erfüllen. Wenn wir unser Quartier bewusst entdeckt haben, können wir uns fragen, wie wir unsere wenigen Grünflächen pflegen wollen, welche Flächen besonderer Aufmerksamkeit und Arbeit bedürfen, und wie wir dazu beitragen können, dass diese Arbeit vollbrachtet wird.
Auf den drei bisher realisierten Quartiersspaziergängen sind die Interessierten rund um Eva und Inge mit zahlreichen Bewohner*innen in Kontakt getreten, um sich über das Viertel und die Grünflächen auszutauschen. Wie Eva betont, sind diese Begegnungen einer Natur, die ansonsten nur selten zu Tage tritt, jedoch schwer zu beschreiben ist. Bisher haben vor allem bekannte Gesichter aus dem Forum:Mirke an den Veranstaltungen teilgenommen. Doch auch neue Gesichter aus anderen Kontexten spazierten mit. Inge und Eva betonen jedoch, dass der Erfolg des Formats für sie nicht zwangsläufig mit der Quantität der Teilnehmer*innen zusammenhängt, sondern vielmehr mit der Intensität der Achtsamkeit, die sich dabei entwickelt.
Wie auch das Spazierengehen auf sich selbst verwiesen bleibt, visieren Inge und Eva vorerst kein größeres Ziel im Rahmen ihres Projekts an. Im bisherigen Prozess des Spazierengehens und den zahlreichen Gesprächen sind jedoch diverse Ideen entstanden, die auf das Projekt folgen könnten. Darunter z.B. die Materialisierung der Ergebnisse durch die Einrichtung eines Wegweisesystems, das die Bewohner*innen aktiv auf die Grünflächen hinweist, aber auch die „Sanierung“ einzelner Grünflächen im Sinne der Nutzbarkeit für möglichst viele Bewohner*innen wurde bereits angedacht. Aktuell erwägen Eva und Inge aber, ob sie die Veranstaltungsreihe nicht vorerst fortführen wollen und sich eventuell erst im weiteren Prozess von Zielen leiten zu lassen. Die Zeit wird zeigen, wohin die Spaziergänge schlussendlich führen werden.
Bevor es so weit ist, spazieren Inge und Eva am 04. November erstmal mit Interessierten über die örtlichen Friedhöfe und lassen den Abend im nahegelegenen Wiesenstübchen ausklingen. Inge und Eva möchten mit ihren Spaziergängen neue Wege der Quartiersentwicklung aufzeigen und den Bewohner*innen eine aktive Rolle bei der Gestaltung ihres Lebensraumes ermöglichen. Wo die Reise hinführt, bleibt offen – doch die bisher entstandenen Ideen zeigen, dass der achtsame Zugang zum Quartier viel Potenzial birgt. Weitere Informationen zu den nächsten Quartiersspaziergängen findest du hier [Spaziergang November] oder hier [Spaziergang Dezember].
Fotos von Judith Kolodziej (@siebterfebruar)
Text von Max-Mosche Kohlstadt (@dermosche)