10 Jahre Klimaschutzsiedlung Malerstraße | Gemeinschaftliches Wohnen im Mirker Quartier
Wohnen ist ein Grundrecht und zugleich ein gesellschaftliches Dauerthema. Spekulant*innen, die Wohnimmobilien als Investitionsquellen behandeln, die Gentrifizierung von urbanen Quartieren, marode Bausubstanzen, steigende Mieten und Nebenkosten – viele dieser Themen begegnen uns im Laufe unseres Lebens, und oft fühlen wir uns dabei alleingelassen. Aber geht das auch anders? Die Klimaschutzsiedlung Malerstraße zeigt bereits seit über 10 Jahren, wie das Wohnen von Morgen aussehen könnte – sowohl in Hinblick auf Klimaneutralität, als auch in Bezug auf soziale Netzwerke. Anlässlich des 10. Jubiläums haben wir uns mit den Bewohnerinnen Margot Nitz-Roelofsen und Margret Hommes-Brühne getroffen, um hinter die Fassade zu blicken und mehr über das Projekt und seine Wirkungen zu erfahren.
Margot Nitz-Roelofsen und Margret Hommes-Brühne sind beide Bewohnerinnen der Klimaschutzsiedlung Malerstraße. Margot arbeitet hauptberuflich als Paartherapeutin und Supervisorin in ihrer Praxis im Wohnprojekt und engagiert sich darüberhinaus ehrenamtlich in diversen sozialen Projekten. Margret ist Sozialpädagogin im Ruhestand, engagiert sich in ihrer Freizeit allerdings ehrenamtlich weiterhin in Beratungskontexten und anderen Projekten.
Lange bevor die Klimaschutzsiedlung erbaut wurde, stand an diesem Ort ein ehemaliges Pfarrhaus. Nachdem es abgerissen wurde, stellte das Grundstück die einzige Baulücke des Quartiers dar. Die Architektin Anja Schacht wurde damals auf das brachliegende Grundstück aufmerksam, sicherte es und entwickelte erste Ideen für die Errichtung eines klimaschonenden Wohngebäudes. Schnell erkannte sie jedoch, dass es für die Umsetzung weitere interessierte Personen braucht. Deshalb begann sie im Januar 2011 die einjährige Gruppenfindungsphase. In einem intensiven kollektiven Prozess fanden sich etwa 30 Personen zusammen, die inhaltliche Entscheidungen trafen, sich währenddessen kennenlernten und so der Umsetzung Stück für Stück näher rückten. Um den Gruppenprozess zu unterstützen, verbrachte die Gruppe viele Wochenenden in Jugendherbergen der Umgebung, um ein gemeinsames Bild davon zu entwickeln, wie sie zukünftig zusammenleben wollten. Nachdem die Finanzierung in Höhe von 4,5 Millionen Euro durch Einzelkredite und Förderungen gesichert werden konnte, begann bereits 2012 der Bau. Dabei legten die zukünftigen Bewohner*innen selbst Hand an, wo immer möglich. Im September 2014 war das Bauprojekt nach nur 3,5 Jahren abgeschlossen – und die Vision einer klimafreundlichen, sozialen Siedlung wurde Realität.
Zentrale Punkte in der Konzeption des Bauprojekts waren möglichst kostengünstig, klimaneutral und barrierefrei zu bauen. Die Klimaschutzsiedlung ist ein sogenanntes „Passivhaus“, das aufgrund seiner enormen Dämmung und der damit einhergehenden Vermeidung von Wärmeverlusten nur einen sehr geringen Energiebedarf aufweist. Daher gibt es keine klassische Heizung im Gebäude, sondern nur eine zentrale Holzpelletheizung für die Aufbereitung von warmen Wasser, und Solarthermiezellen, die im Wechsel zusammenarbeiten. Im Gegensatz zu konventionellen Neubauten spart die Klimaschutzsiedlung so ca. 87% CO₂ ein. Durch die Hilfe der Stadt Wuppertal wurde der Gebäudekomplex samt seiner einzelnen Wohneinheiten in das Landesprogramm „100 Klimaschutzsiedlungen NRW“ aufgenommen, wodurch der offizielle Name zustande kommt. Was in erster Linie nach einem teuren Vorhaben klingen mag, wird durch die Ansammlung der einzelnen Inhaber*innen und konsequente Entscheidungen für hochwertige, aber preiswerte Baumaterialien verhältnismäßig kostengünstig. Margot betont in diesem Zuge auch, dass es sich bei der Klimaschutzsiedlung nicht um eine Ansammlung von reichen Menschen und Luxuswohnungen handelt. Derartige oder vergleichbare genossenschaftliches Modelle seien für recht viele Menschen realisierbar – vorausgesetzt man möchte in einer Gemeinschaft wohnen.
Denn das Wohnprojekt in der Malerstraße ist nicht bloß eine Ansammlung von Wohnungen in einem klimaneutralen Gebäudekomplex. Von Anfang an war der 30-köpfigen Gruppe klar, dass das Gebäude auch ein Mehrgenerationenhaus darstellen sollte, in dem Bewohner*innen mit einer großen Altersspanne gemeinsam ihr Leben bestreiten. Durch den kollektiven Planungs- und Bauprozess zusammengewachsen, pflegen die Bewohner*innen auch heute enge und solidarische Beziehungen zueinander, die durch die materielle Gestaltung des Gebäudes unterstützt wird. Über den gesamten Komplex verteilt befinden sich Flächen, die kollektiv von allen Bewohner*innen genutzt und gepflegt werden. Darunter der Garten im Hinterhof, die Laubengänge, zwei separate Dachterrassen, ein Partykeller, ein ebenerdiger Fahrradkeller und ein Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. In letzterem finden nicht nur Treffen in Arbeitsgruppen statt, sondern hier wird auch gelegentlich gemeinsam gekocht, sonntags zusammen Tatort geschaut, monatlich Kuchen gebacken und verzehrt, und Pilates gemacht. Von Zeit zu Zeit dient der Raum auch als Ausrichtungsort für Veranstaltungen und Geburtstagsfeiern. Wie der Raum konkret genutzt wird, entscheiden die Bewohner*innen kollektiv. Die gemeinsamen Räumlichkeiten sind außerdem Ausgangspunkt der Selbstverwaltung des Hauses. Alle Bewohner*innen treffen sich mindestens einmal im Monat, um anstehende Entscheidungen basisdemokratisch zu treffen. Darüber hinaus ist jede*r Bewohner*in in mindestens einer Gruppe organisiert, die sich der Pflege der gemeinschaftlichen Räume und Gegenstände widmet. Diese nachbarschaftliche Pflege von geteilten Gegenständen, wird auch dadurch unterstützt, dass die Bewohner*innen einen „digitalen Hausfunk“ aufgebaut haben, den sie nutzen können, um nach Unterstützung zu fragen und sie anzubieten. Margot hat etwa zuletzt nach Hilfe gefragt, nachdem sie sich auf der Nordbahntrasse einen platten Reifen eingefangen hatte. Nur 15 Minuten später stand eine*r der Nachbar*innen mit dem Werkzeugkoffer vor ihrer Tür und flickte ihren Reifen. Resultat der andauernden gemeinschaftlichen Verwaltung des Wohnprojekts, der kollektiven Bewältigung von Aufgaben und dem damit einhergehenden sozialen Beziehungsgeflecht ist laut Margot und Margret, dass alle Bewohner*innen inzwischen sehr aneinander gewöhnt sind. Wenn Bewohner*innen das Haus verlassen, weil sich Partner*innen trennen oder Kinder ausziehen oder wenn es Bewohner*innen aufgrund anderer Probleme schlecht geht, hinterlässt das bei allen einen bleibenden Eindruck. Oder wie Margret es betont: „Wenn sich einer von uns trennt, dann trennen wir uns alle ein bisschen“.
Margot und Margret sind bereits seit den ersten Tagen Teil des Wohnprojektes und sie bemerken immer wieder, dass sich in den letzten 10 Jahren auch die Aufgaben und Hürden verändern, mit denen sie sich als Gruppe konfrontiert sehen. Teil des Gruppendaseins ist es, dass sie gemeinsam älter wird. Während im September 2014 Bewohner*innen zwischen 0 und 80 (darunter 15 Kinder) in das Projekt einzogen, leben inzwischen Bewohner*innen zwischen 10 und 77 (darunter 5 Kinder) im Haus. Sie überlegen deshalb gemeinsam, wie sie es möglichst gut schaffen können, die Hürden des Älterwerdens zu bewältigen. „Das Schöne am gemeinschaftlichen Wohnen ist, dass wir nicht mit der Einsamkeit konfrontiert sind, die gesellschaftlich betrachtet im Alter zunimmt“, betont Margret – die barrierefreie Bauweise spielt dabei zusätzlich in die Karten.
Bereits in der Bauphase wurde den Bewohner*innen klar, dass sie ihr Glück teilen und sich nicht in ihrem Wohnprojekt einschließen wollen. Wie auch heute noch besuchten die Bewohner*innen in der Konzeptionsphase zahlreiche anderen Wohnprojekte und tauschten Wissen mit Ihnen aus. Um auch Interessierten Zugang zu ihren Räumlichkeiten zu ermöglichen und darüber hinaus als Inspirationsquelle für gemeinschaftliches Wohnen zu wirken, haben die Bewohner*innen gemeinsam den Kommunikationstreff Malerstraße e.V. (KomMal e.V.) gegründet. Als Vereinsstruktur übernimmt er die Aufgabe dieses „gewisse Sendungsbewusstsein“, wie Margot es formuliert, auszuleben. Neben diversen öffentlichen Veranstaltungen, die auf den Gemeinschaftsflächen veranstaltet werden, Quartiers- und Kulturarbeit, organisiert der KomMal e.V. daher auch Hausführungen für Interessierte.
Durch die seit 10 Jahren gelebte Praxis, zeigt die Klimaschutzsiedlung Malerstraße samt all ihrer Bewohner*innen, wie das Wohnen von Morgen aussehen könnte und welches Potenzial nachbarschaftlichen Beziehungen innewohnt. Am 21. September feiern die Bewohner*innen mit geladenen Gäst*innen einen Tag lang ihr Bestehen und auch wir wollen gratulieren: Auf viele weitere Dekaden und weitere Wohnprojekte im Quartier Mirke! Falls euch der fotografische Einblick hinter die Kulissen nicht gereicht hat und ihr die Klimaschutzsiedlung in persona erleben wollt, findet ihr hier weitere Informationen zu Hausführungen und Veranstaltungen: www.malerstrasse.de
Fotos von Judith Kolodziej (@siebterfebruar)
Text von Max-Mosche Kohlstadt (@dermosche)
Ein wirklich sehr gelungener Artikel ! Und wer das eventuell als Außenstehender oder Außenstehende liest, könnte meinen “das gibt’s doch gar nicht” . Doch das gibt es – Ich kann das bestätigen: ich war einer der im Artikel als geladener Gast bezeichneten Teilnehmer der Feier am 21. September. Und wäre ich vor rund 15 Jahren auf dieses Projekt aufmerksam geworden – wer weiß – Ich würde heute vielleicht dort wohnen ! Sven