Traumviertel in der Mirke | Perspektiven von Kindern in der Stadtentwicklung stärken
Kinderarmut im Quartier. Eine Thematik vor der viele Akteur*innen am liebsten die Augen verschließen. Doch wer mit offenen Augen durch das Quartier läuft, dem*der bleibt nicht verschlossen, dass Kinderarmut und ihre Folgen einen allgegenwärtigen Bestandteil der Mirke darstellt. Eine*r der Akteur*innen, die sich den Abwärtsspiralen der Kinder und Jugendlichen aktiv entgegenstellt, ist die Alte Feuerwache. Seit 30 Jahren leistet sie wertvollste pädagogische Arbeit im Einzugsgebiet der Mirke und arbeitet dadurch präventiv gegen sich stetig reproduzierenden sozioökonomischen Bedingungen, deren Auswirkungen sich nicht zuletzt durch die Maßnahmen der Pandemie stark zuspitzten. Mit der Eröffnung des Kulturkindergartens 2019 wurde ein weiterer physischer Meilenstein geschaffen, der die Präventionskette gegen Armut und ihre Folgen verdichtet. Doch darüber hinaus bringen die Strukturen der Alten Feuerwache immer wieder neue Projekte für Kinder und Jugendliche hervor. So auch das Projekt: „Mein Traumviertel„, das momentan von der Kulturwerkstatt der Alten Feuerwache, mit finanzieller Unterstützung von der Wuppertaler Firma „Knipex„, durchgeführt wird. Am vergangenen Freitag, dem 21. Mai wurden der amtierenden Oberbürgermeister Uwe Schneidewind und der Geschäftsführer von Knipex, Ralf Putsch, durch das Quartier geführt, um die neuen Errungenschaften zu präsentieren und gezielte Fragen zu stellen. Mit dabei war außerdem Jana-Sophia Ihle (Pädagogische Leitung der Alten Feuerwache), Joachim Heiß (Geschäftsführer der Alten Feuerwache), Dörte Bald und Björn Krüger (Kulturwerkstatt Alte Feuerwache) und David J. Becher (Vorstand Förderverein Utopiastadt).
Das Projekt „Mein Traumviertel“ wird von der Kulturwerkstatt, ansäßig in der Alten Feuerwache, durchgeführt. Gefördert durch das Programm „kinderstark – NRW schafft Chancen“ setzt sich die Kulturwerkstatt zum Ziel, mithilfe von kulturellen Bildungsangeboten als Bindeglied in der Präventionskette für Kinder und Jugendliche zu funktionieren, die ihnen ein begleitetes und altersgerechtes Aufwachsen ermöglicht. Hier bekommen die Kinder und Jugendlichen durch Bildungs- und Bindungsarbeit die Möglichkeiten sich als Tänzer*innen, Filmemacher*innen, Maler*innen, Musiker*innen oder Schauspieler*innen wiederzuentdecken und Leidenschaft zu entwickeln. Muße fällt nun mal nicht vom Himmel, sondern ist Produkt von sozioökonomischen Bedingungen unter denen Kinder aufwachsen. Das vielfältige kreative Ausleben soll den Kindern und Jugendlichen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit eröffnen und der Persönlichkeitsbildung dienen. Im Fokus steht dabei immer zuerst der Prozess des Schaffens und weniger das Ergebnis, immer der Impuls der Heranwachsenenden und weniger die alleinige Anleitung durch Fachpersonal. Diese Möglichkeiten sollen möglichst vielen Kindern und Jugendlichen im Quartier zugutekommen. Deswegen arbeitet die Kulturwerkstatt an diversen Möglichkeiten ihre Expertise und Angebote in die Mirke zu tragen. Allerdings nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch mit ihnen. Denn wer könnte besser wissen, was Heranwachsende brauchen, als sie selbst? Das ist nicht nur lobenswert, sondern ein essenzieller Bestandteil diverser Quartiersentwicklung, die sich an tatsächlichen Bedarfen des Quartiers orientiert, statt vereinzelte Leuchtturmprojekte zu schaffen, mit denen man sich schmücken kann.
Anlässlich dieses Vorhabens, arbeitet die Kulturwerkstatt im Rahmen von „Mein Traumviertel“ mit verschiedenen Schulen und Kindergärten zusammen, die in Unterrichtseinheiten an Ideen arbeiten. Außerdem wurde an der Trassenseite des Kulturkindergartens ein Briefkasten installiert, in den Kinder und Jugendliche ihre Wünsche bzgl. ihres ganz eigenen Traumviertels einwerfen können. Diesen durfte der amtierende Oberbürgermeister Schneidewind im Zuge des Rundgangs leeren und dessen Inhalt betrachten. Alle Ergebnisse werden gesammelt und in einer Ausstellung am Ende des Jahres veröffentlicht. Allerdings wird sich diese Ausstellung nicht nur in Form von künstlerischen Darbietungen äußern, sondern darüber hinaus eine Bedarfsanalyse der Gegebenheiten aus Sicht der Kinder und Jugendlichen enthalten. Doch auch solche Projekte bedürfen finanzieller Mittel, um in einer Umsetzung zu enden. Die Firma „Knipex“ hat in den vergangenen Wochen sowohl die Kulturwerkstatt unterstützt als auch den Spielplatzcontainer finanziert. Letzterer steht seit knapp zwei Monaten auf dem Utopiastadt-Campus an der Nordbahntrasse. Doch hier soll er nicht auf ewig verweilen. Vielmehr ist es angedacht den Spielplatzcontainer durch das Stadtgebiet wandern zu lassen und damit Aufmerksamkeit für die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Stadt zu schaffen. Aber warum engagiert sich eine globale Größe wie „Knipex“ für ein solches Vorhaben? Im Rahmen des Rundgangs mit Ralf Putsch, entgegnete er, dass die Missstände von Kindern und Jugendlichen allgegenwärtig seien. „Knipex“ habe die Ressourcen einen Teil dazu beizutragen, diesen Missständen entgegenzuwirken. Außerdem sei er der Auffassung, dass die Alte Feuerwache mit ihrer 30 jährigen Erfahrung ein wichtiger Akteur im Quartier sei, der unterstützungswürdige Arbeit leistet. Sowohl der Besuch des Briefkastens, als auch der des Spielplatzcontainers wurden von musikalischer Einlagen durch Kinder der blauen Gruppe des Kulturkindergartens und Jolina aus der Alten Feuerwache unter Anleitung von Björn Krüger begleitet.
Letztlich endet die Führung im Café der Alten Feuerwache. Hier zeigt Dörte Bald eine Kurzdokumentation zu dem Theaterstück „Die Traum Firma“ von Melsa Cesen (21). Melsa ist ein ehemaliges Kind der Alten Feuerwache, die bereits im Grundschulalter Teil des Programms wurde. In ihrem Theaterstück entwirft sie die Geschichte einer Firma, die mit Hilfe von den Dschninis, die Wünsche von Kindern wahr werden lässt. Doch die Firma gerät an ihre Grenzen und die wünschenden Kinder finden ihren eigenen Weg. Melsas Theaterstück steht neben der Kreativität Melsas, ganz exemplarisch für die Auswirkungen von Erfahrungen der eigenen Selbstwirksamkeit und damit auch für das Gelingen der Angebote der Kulturwerkstatt. Bevor die Veranstaltung endet, kommt der Oberbürgermeister noch einmal zu Wort. Auf die Konfrontation mit dem Fakt, dass Kinder und Jugendliche nur sehr wenig Raum in seinem Programm finden, entgegnet er, dass sein Programm vor allem keine Analyse der Situation der Stadt sei. Quartiersentwicklung aber, auf die sich sein Programm unter anderem bezieht, schließt auch die Verbesserung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit ein. Des Weiteren hat die Stadtspitze sich unter dem Schlagnamen „Wuppertal ohne Diskriminierung“ zum Ziel gesetzt „das[s] Menschen – unabhängig von Kultur, Herkunft, Religion, individuellen Einschränkungen, sexueller Orientierung, Geschlecht oder sozialem Status“ [Quelle] wertgeschätzt und respektiert werden. Man kann nur hoffen, dass dieses Vorhaben sich nicht mit den Einrichtungen einer Antidiskriminierungsstelle vom Tisch fegen lässt, sondern auch den strukturellen Kern von Diskriminierung erkennt und aktiv bekämpft. Schneidewind lege in seinem gesamten Programm so weniger Fokus auf Problematiken, sondern vielmehr auf deren Lösung durch Transformation. Im diesem Zuge teilt er auch mit, dass er die Länder- und Bundespolitik stärker in die Lage Wuppertals einbeziehen möchte. Es könne nicht sein, dass kommunale Verlierer*innen des Strukturwandels nicht durch bundesweite Solidarität aufgefangen werden. Auf die Frage, wie es gelingen könnte, das dauerhaft drängende Thema der Kinderarmut nicht immer wieder aus dem Fokus alltäglicher politischer Entscheidungen zu verlieren, zeigte Schneidewind sich nachdenklich und regte an, anschließend an die Themen des Quartiersrundgangs einen gemeinsamen Workshop dazu durchzuführen.
Schlussendlich bleibt herauszustellen, dass eine finanziell schwache Stadt wie Wuppertal auf die vielfältigen privaten Geldgeber*innen und die Vielzahl der engagierten Bürger*innen und Initiativen angewiesen ist, um gesellschaftliche Problematiken mit Rückhalt anzugehen. Außerdem sollten Geldgeber*innen und Politiker*innen die Stimmen der Expert*innen und vor allem der Betroffenen ernst nehmen und mit einbeziehen. Keine Politik über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern gemeinsam mit ihnen. Das heißt zum einen, die eigene Expertise nicht als Vollkommene zu verkennen, und zum anderen Entscheidungsgewalt, wenn möglich abzutreten. Dabei darf es nicht auf angeblich fehlenden Mündigkeit oder Körpergröße ankommen. Denn auch Kinder und Jugendliche wissen schlussendlich, was sie brauchen um besser aufwachsen, leben und spielen zu können. Die Alte Feuerwache und die Kulturwerkstatt leisten in diesem Sinne eine existenzielle Arbeit im Quartier.