Brockhaus und die Treppe | Geschichte lebendig werden lassen
Das Quartier Mirke ist durchzogen von der Historie ihrer Entstehung. Unter den alten Fassaden und Bürgersteigen kommt sie jedoch allzu selten zum Vorschein. Umso wichtiger ist es, die Geschichte des Quartiers ab und an ins Bewusstsein zu rufen und als Bestandteil der heutigen Strukturen zu verstehen. Dazu gehören auch die zahlreichen Menschen, die in den letzten Jahrzehnten im Quartier lebten und dessen Wandel hautnah miterlebten. Wir haben uns mit Frederico und Ekkehard Brockhaus, getroffen um mehr über ihre Familiengeschichte im Quartier zu erfahren und einen Einblick in die Vergangenheit des Viertels zu wagen.
Frederico Brockhaus ist in Rio de Janeiro (Brasilien) aufgewachsen. Er lebt seit 2006 in Deutschland und verwaltet im Namen der Familie die Häuser 39, 39a und 41 in der Mirker Straße. Ekkehard Brockhaus ist Enkel des Firmengründers Friedrich Brockhaus, der 1900 die Firma „Reproduktionsbetrieb Friedrich Brockhaus“ eröffnete und der Onkel von Frederico. Er hat über 28 Jahre in der Mirker Straße gelebt und betreibt seit 1993 den Verlag „Verlag Ekkehard & Ulrich Brockhaus KG“, der sich im Kern mit Genealogie, Familien- und Kulturgeschichte befasst.
Der „Reproduktionsbetrieb Friedrich Brockhaus“ wurde 1900 von Ekkehards Großvater Friedrich Brockhaus in der ehemaligen Bleichstraße gegründet. Anlässlich der Städtevereinigung von Elberfeld und Barmen und der damit einhergehenden Umstrukturierung der Infrastruktur, zog der Betrieb nach dem Ende des zweiten Weltkriegs 1946 in die Mirker Straße 39a. Im Vorderhaus, der Mirkerstraße 39 und 41 wohnten eine Vielzahl der Beschäftigten mit ihren Familien und die Familie Brockhaus. Ein Blick aus den Fenstern der Wohnungen offenbarten damals noch einen freien Blick auf die Treppenanlage, die als Hauptzugangsweg zum Mirker Bahnhof, der zur damaligen Zeit in vollem Betrieb war, fungierte. Tagtäglich nutzen die frisch-gebackenen Wuppertaler*innen sie, um zur Arbeit oder zurück nach Hause zu gelangen – mit der Bahn versteht sich, nicht mit dem Rad. So auch viele der Angestellten des Reproduktionsbetriebs, die sich in ihrem Arbeitsleben den Aufgaben der Druckvorstufe widmeten und zahlreiche Fotografien bearbeiteten, beschrifteten und komponierten. Nach über 100 Jahren fiel der Familienbetrieb aber letztendlich der Digitalisierung zum Opfer. Mit den heutigen technischen Mitteln können all die Arbeiten des Reproduktionsbetriebs digital am Computer durchgeführt werden. Was einst intensive Hand- und Kopfarbeit war, ist heute ein paar Klicks entfernt.
In der damaligen Zeit war es noch vollkommen normal, dass Arbeitsleben und Wohnen in einem verbundenen Nebeneinander existierten. Was heute als „Neue Urbane Produktion“ gepriesen und „neu entdeckt“ wird, war einst Alltag. Ekkehard hat allerdings nicht den Eindruck, dass diese Nähe entscheidend zu einem intensiveren Nachbarschaftsgefüge beigetragen hat. Letztendlich führte diese geringe räumliche Distanz aber zu einer Vermischung des Quartiers als Arbeits- und Wohnraum. Das zeigt nicht zuletzt eine der Fotografien die Ekkehard und Frederico mitbringen. Darauf ist die gesamte Belegschaft des Betriebs im Jahre 1950 anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums auf der Treppenanlage vor dem Mirker Bahnhof versammelt. Der 12-jährige Ekkehard Brockhaus steht neben seinem Vater in der vordersten Reihe. Die Treppe stellte also schon damals einen bedeutenden Ort der Repräsentation dar. Ein zweites Foto, das die beiden mitbringen, zeigt eine Luftaufnahme von 1968 auf dem die Gebäude der Familie Brockhaus und Teile des Vorplatzes des Mirker Bahnhofs zu sehen sind. Neben der mächtigen Kastanie schmückten einst zwei weitere den Vorplatz. Außerdem ist die gespaltene Zuwegung zur Treppe deutlich sichtbar. Der damalige Glanz des Bahnhofs und der Treppenanlage nahm mit der Stilllegung der „Wuppertaler-Nordbahn“ 1991 jedoch rapide ab, bis sie letztendlich gar nicht mehr nutzbar war. Daran konnte auch die Übernahme des Mirker Bahnhofs durch die „Utopiastadt gGmbH“ nichts ändern. Erst die Eröffnung der Nordbahntrasse als Rad- und Fußweg und die Belebung des ehemaligen Bahnhofs im Sinne „Utopiastadts“ führte zu einer Attraktivitätssteigerung des Areals. Diese neuen Impulse mündeten letztendlich in den laufenden Sanierungsarbeiten der historischen Treppenanlage, die heute am 14. Mai 2022, anlässlich des Tages der Städtebauförderung, nun endgültig wieder eröffnet wird. Nach intensiven Sanierungsarbeiten wurden Teile der historischen Bausubstanz aufgearbeitet und mit modernen Elementen rekonstruiert.
Frederico und Ekkehard sind nicht bloß auf Grund der Attraktivitätssteigerung glücklich über die Durchführung der Baumaßnahmen. Die beiden empfinden insbesondere die nachbarschaftlichen und vernetzende Entwicklungen im Quartier als äußerst positive. Auch wenn das Quartier heute in vielen Facetten ein anderer Ort ist als noch vor 50 oder 100 Jahren, so ist das zeitgenössische Quartier doch durchzogen von historischen Entwicklungen und ihren Gravuren in der Struktur des Ortes. Geschichte lebt darin fort und bedarf der andauernden pflegenden Arbeit, um sie lebendig zu halten. Vielleicht wird die Treppe in Zukunft somit wieder zu einem zentralen Ort im Quartier, auf der benachbarte Betriebe Fotos zum 50-jährigen Jubiläum schießen können.